Ich lade dich herzlich ein vor die Tore Hamburgs ins größte Obstanbaugebiet Europas! Erlebe hautnah, wie Svenja ihr Leben mit dem elterlichen Betrieb und ihrem kleinen Bruder Joris meistert. Findet sie dort auch die große Liebe?
Du kannst heute bereits das erste Kapitel lesen! Ich wünsche dir viel Freude und hoffe, dass dir der Ausflug ins Alte Land gefällt!
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Sommertage im Alten Land
- Kapitel 1 -
Mit einem Seufzer schob Svenja das Blech mit dem Apfelkuchen in den Backofen und drückte die Klappe zu, bevor sie sich aufrichtete und für einen Moment die Augen schloss. Dann strich sie das Haar aus der verschwitzten Stirn und machte sich daran, die Küche aufzuräumen.
Bald schon zog ein köstlicher Duft nach süßen Äpfeln durch den Raum. Ein Blick durch die gläserne Tür des Ofens zeigte ihr, dass die Früchte oben bereits karamellisierten. Die Mandelblätter nahmen ebenfalls schon eine leicht goldbraune Farbe an.
Als die Ladenglocke ging, verstaute Svenja gerade die gereinigte Rührschüssel im Schrank. Eilig wischte sie die Hände am Trockentuch ab und ging in den Verkaufsraum.
»Moin, Frau Hinrichsen«, grüßte sie die ältere Dame, die auf einen Gehstock gestützt von der hölzernen Kiste mit den Birnen aufsah und ihr ein freundliches Lächeln schenkte.
»Moin, Svenja. Das sieht wieder alles so appetitlich aus, dass ich mich nicht entscheiden kann.«
Frau Hinrichsen kaufte im Laden ein, seit Svenja denken konnte. Also praktisch ihr ganzes Leben lang. Sie mochte die alte Dame mit der modischen Kurzhaarfrisur und der lebenslustigen Art. Als Svenja noch klein gewesen war, hatte sie ihr oft einen Lutscher oder Gummibärchen zugesteckt und dabei jedes Mal verschwörerisch gelächelt. Auch Joris hatte sie später Süßigkeiten geschenkt, Svenja dabei aber nie vergessen, obwohl sie beteuert hatte, aus dem Alter langsam heraus zu sein.
»Kindchen, für Süßes ist man nie zu alt.« Frau Hinrichsen hatte gegrinst und sich ebenfalls ein Stück Schokolade in den Mund geschoben.
Svenja verzog die Lippen zu einem wehmütigen Lächeln, als sie an diese Zeit zurückdachte. Dann schüttelte sie schnell den Kopf, um die unliebsamen Gedanken zu vertreiben, und ging um den Tresen herum. »Die Birnen sind eine gute Wahl. Das ist eine frühe Sorte. Sie haben schon richtig viel Sonne getankt und sind daher saftig und aromatisch. Zum Verarbeiten sind sie fast ein wenig zu schade. Am besten isst man sie so.«
Umständlich reichte Frau Hinrichsen ihr eine Leinentasche, die bis eben an ihrem Arm gehangen hatte. »Dann gib mir mal zwei Stück davon, min Deern.«
»Natürlich.« Svenja suchte zwei besonders schöne Früchte heraus, wog sie ab und legte sie in die Tasche. »Brauchen Sie sonst noch etwas? Die Tomaten habe ich heute Morgen erst vom Strauch genommen. Frischer geht es nicht.«
Als neben den kräftig roten Tomaten auch noch ein Salatkopf in der Tasche verschwand, schnupperte Frau Hinrichsen.
»Das riecht aber köstlich. Backst du wieder?«
»Ich habe ein neues Apfelkuchenrezept ausprobiert. Na ja, eigentlich ist es ein altes. Ich habe kürzlich ein Buch meiner verstorbenen Oma gefunden. Ich dachte ja immer, sie hatte alle Rezepte im Kopf. Dann wurde ich aber eines Besseren belehrt, als ich die Notizen in einer antiken Holztruhe neben dem Kaffeegeschirr gefunden habe. Den Kuchen möchte ich den Kunden heute Mittag anbieten. Einen Birnen- und einen Aprikosenkuchen habe ich schon fertig.« Svenja reckte lächelnd das Kinn. Die Kuchen waren ihre Spezialität. Es gab Kunden, die dafür einen weiten Weg auf sich nahmen, besonders an den Wochenenden.
»Ach, wenn deine Eltern das nur sehen könnten.« Frau Hinrichsen seufzte und schwieg einen Moment. Vorsichtig fasste sie nach Svenjas Arm, strich kurz darüber und schenkte ihr einen mitfühlenden Blick. Ihre Augen glänzten verdächtig feucht. »Sie wären stolz auf dich, das kannst du mir glauben.«
Svenja schluckte und kämpfte für einen Augenblick mit dem Kloß im Hals, der ihr die Kehle zuzuschnüren drohte. »Das will ich doch wohl hoffen, Frau Hinrichsen«, erwiderte sie schließlich betont munter, als sie sich sicher war, dass ihr die Stimme gehorchte. Zu dem Lächeln, das sie der Kundin schenkte, musste sie sich jedoch zwingen.
Einen Moment herrschte Schweigen in dem winzigen Laden, der Svenja plötzlich noch kleiner vorkam. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, nach draußen in die Sonne zu treten und die frische Sommerluft einzuatmen. So gern sie Frau Hinrichsen mochte, nun wäre sie lieber gern allein.
Glücklicherweise zerschnitt das Läuten des Telefons die Stille in dem Augenblick, als das Schweigen unangenehm zu werden drohte.
Erleichtert fischte Svenja das Smartphone aus ihrer Tasche und warf Frau Hinrichsen ein entschuldigendes Lächeln zu. Als sie jedoch die Nummer des Anrufers erkannte, biss sie die Zähne zusammen und stöhnte innerlich auf. Einen kindischen Moment lang zögerte sie, den Anruf überhaupt entgegenzunehmen. Dann verwarf sie den Gedanken jedoch sofort wieder. Was auch immer man ihr mitteilen wollte, änderte sich dadurch nicht.
»Tietjen«, meldete sie sich förmlich und versuchte, ihrer Stimme einen selbstsicheren Klang zu geben. Sie fand, das gelang ihr halbwegs gut, obwohl Souveränität das letzte Wort war, mit dem sie ihre momentane Gemütslage beschrieben hätte.
Mit dem Handy am Ohr bedeutete sie Frau Hinrichsen, ihr zu folgen.
»Frau Tietjen, Sie müssen bitte kommen und Ihren Bruder abholen«, vernahm sie auch schon die ihr nur allzu bekannte Stimme der Sekretärin aus Joris’ Schule.
Dabei konnte sie froh sein, dass sie es nur mit Frau Ratens zu tun hatte, in deren Stimme eine Mischung aus Mitleid und Empörung schwang. Der Direktor, Herr Knop, polterte immer gleich los. Das hatte er schon getan, als Svenja noch zur Schule gegangen war. Dabei hatte sie während ihrer ganzen Schulzeit weniger mit ihm zu tun gehabt als in den letzten beiden Jahren, seit sie für ihren Bruder die Verantwortung trug.
Für einen Moment legte sie die Hand über das Mikrofon und wandte sich an Frau Hinrichsen. »Das macht dann bitte acht Euro dreißig.«
»Wie bitte?« Frau Ratens war sichtlich aus dem Konzept gebracht.
Svenja unterdrückte ein Seufzen. Die Taktik, mit dem Abkassieren von Frau Hinrichsen Zeit zu schinden, ging natürlich nicht auf. »Ich meinte nicht Sie, Entschuldigung«, sagte sie, als sie die Hand wieder vom Telefon nahm.
»Ah, ja. Also, wenn Sie dann bitte vorbeikommen würden. Joris sitzt im Rektorat, er war in eine Schlägerei verwickelt, in deren Folge ein Schüler zum Arzt musste.«
Svenja zwang sich, Frau Hinrichsen zuzunicken, die winkend die Hand hob und auf ihren Stock gestützt langsam den Laden verließ. Erst als sie draußen war, gestattete sie sich, auf den Stuhl zu sinken, der hinter dem Tresen stand, und für einen Moment die Augen zu schließen.
»Frau Tietjen, sind Sie noch dran?«
»Ja, ich bin noch da.« Nun hatte ihre Stimme doch sämtliche Souveränität verloren. »Ist Joris etwas passiert?«
»Nein, er hat nicht einmal einen Kratzer. Es tut mir leid«, fügte die Sekretärin hinzu. Ihre Stimme war leiser geworden, hatte einen mitfühlenden, beinahe mütterlichen Klang angenommen. Für diesen einen Augenblick, in dem sie jede Geschäftsmäßigkeit verlor, war Svenja ihr dankbar.
»Ist das die Erziehungsberechtigte des Jungen?«, vernahm Svenja nun die autoritäre Stimme von Herrn Knop aus dem Hintergrund.
Trotz der Entfernung zum Hörer entging ihr der abwertende Tonfall nicht. Er hätte sie auch als Joris’ Schwester bezeichnen können. Alternativ hatte sie einen Namen, der ihm ebenfalls bekannt war.
Sie öffnete die Augen und setzte sich aufrechter hin. Als ihr bewusst wurde, was sie tat, stand sie verärgert auf. Sie war kein kleines Kind mehr.
»Sie können Herrn Knop ausrichten, dass ich sofort losfahre.«
»Sie ist bereits auf dem Weg«, hörte sie Frau Ratens da schon sagen.
Svenja stellte sich vor, wie auch die Sekretärin eine stramme Haltung annahm. Augenblicklich tat ihr Joris leid, was immer auch zu der Prügelei geführt haben mochte. Kein Schüler hatte es verdient, auf dem Stuhl im Rektorat zu sitzen und darauf zu warten, dass er abgeholt wurde.
Herr Knop brummelte etwas vor sich hin, dann wurde seine Stimme leiser.
»Es ist besser, Sie beeilen sich«, flüsterte Frau Ratens jetzt, ehe sie sich hastig verabschiedete und auflegte.
Am liebsten hätte Svenja extra getrödelt, nur um den Direktor zu ärgern. Damit half sie Joris aber nicht. Zum Glück war ihm offenbar nichts passiert. Der Wunsch, ihren Bruder in ihre schützenden Arme zu ziehen, war plötzlich übermächtig.
Daher löste sie die Schlaufen ihrer Schürze und betrat den kleinen Raum hinter dem Tresen. Dort hängte sie das Kleidungsstück an den Haken neben der Tür und warf einen letzten Blick in den Spiegel, dessen Ecken bereits schwarz angelaufen waren. Sie strich das lange, dunkle Haar glatt und rieb über den Mehlfleck auf ihrem Ärmel.
Hastig griff sie nach ihrer Tasche und dem Autoschlüssel und hängte das »Komme gleich wieder«-Schild in die Tür, bevor sie sorgfältig abschloss.
Glücklicherweise sprang der alte Fiat heute beim ersten Versuch an.
***
Die Schule war wie ausgestorben, als Svenja über den Pausenhof ging. Erinnerungen krochen in ihr hoch. Chaotische Klassenzimmer, Lehrerinnen und Lehrer, die Pausen, die sie zusammen mit ihren Freundinnen verbracht hatte – es war eine glückliche, sorglose Zeit gewesen. Eine, in der sie nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen damit gerechnet hatte, was auf sie zukommen würde. Damals hatte sie noch davon geschwärmt, Tiermedizin zu studieren.
Eilig schob sie die Gedanken von sich und betrat das Gebäude. Typischer Schulmief schlug ihr entgegen. Die Mischung aus abgestandener Luft, Staub und immer noch einem Hauch Kreide, obwohl die alten Tafeln längst modernen Boards gewichen waren, auf die man mit speziellen Stiften schrieb, raubte ihr für einen Moment den Atem.
Nun wirkte die Schule nicht mehr ausgestorben. Hinter den Türen, die sie passierte, waren Stimmen zu hören. In einem Klassenzimmer war es ziemlich laut, bis jemand mit lauter Stimme um Ruhe bat. Svenja meinte, die Stimme ihrer ehemaligen Mathelehrerin, Frau Jansen, zu erkennen. Mittlerweile war sie Konrektorin.
Unwillkürlich lächelte Svenja. Bei Frau Jansen hatte sie die schönsten Unterrichtsstunden verlebt, obwohl Mathe nicht unbedingt ihre Paradedisziplin gewesen war. Aber die Lehrerin hatte es geschafft, mit einer einzigartigen Mischung aus Strenge und Nachgiebigkeit bei allen Schülerinnen und Schülern gleichermaßen beliebt zu sein. Dabei hatte sie ihre gute Laune nie verloren.
Kurz verweilte Svenja, bis sie sich sicher war, dass es sich tatsächlich um ihre einstige Lieblingslehrerin handelte, die da sprach. Dann jedoch zwang sie sich zum Weitergehen.
Das Rektorat befand sich im ersten Stock gegenüber der Treppe. Vermutlich weil Herr Knop von dort aus alles im Blick hatte, wenn er die Tür öffnete. Sie schnitt eine Grimasse. Noch konnte er sie ja nicht sehen.
Vor der Tür angekommen, atmete Svenja einmal tief durch, straffte die Schultern und trat nach einem raschen Klopfen ein.
Frau Ratens saß hinter dem Tresen. Als sie Svenja erblickte, unterbrach die Sekretärin das Tippen am Computer und schob die Lesebrille, die eben noch vorn auf ihrer Nasenspitze gethront hatte, ins Haar. Die grauen Locken wurden dadurch nach hinten gestreift und verliehen ihr ein jugendliches Aussehen. Der Situation zum Trotz schenkte sie Svenja ein Lächeln.
Svenjas Mutter hatte sie ebenfalls immer mit diesem warmen, liebevollen Blick bedacht, der so beruhigend gewesen war, dass sie am liebsten darin gebadet hätte.
Ihr Herz zog sich zusammen.
»Hallo, Frau Tietjen.« Die Sekretärin war erst im Jahr nach Svenjas Abitur an die Schule gekommen, daher hatte sie Svenja von Anfang an als Erziehungsberechtigte von Joris wahrgenommen. Das förmliche »Sie« war die logische Folge.
Svenja hatte keine Möglichkeit, den Gruß zu erwidern. Noch im selben Moment ging die Tür zum Nebenzimmer auf und Herrn Knops schlanke, hochgewachsene Gestalt tauchte auf.
»Da bist du ja endlich«, bellte er, drehte sich um und ging wortlos zurück in sein Büro, ohne sich zu vergewissern, ob Svenja ihm folgte. Er hatte sich nie an das »Sie« gehalten, obwohl die Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe ein Recht darauf gehabt hätten, förmlich angesprochen zu werden. Jetzt, da sie die Schule verlassen hatte, ohnehin.
Svenja zog nur einen kurzen Moment in Erwägung, ihn darauf hinzuweisen. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen, konnte ein Augenrollen jedoch nicht unterdrücken, was ein unterdrücktes Kichern von Frau Ratens zur Folge hatte. Sie warf der Sekretärin einen schnellen Blick zu. Die reckte verschwörerisch beide Daumen und schenkte ihr ein weiteres Lächeln.
Im Büro des Direktors saß Joris auf einem alten Holzstuhl und sah ihr entgegen. Schnell scannte Svenja ihren Bruder ab und fühlte grenzenlose Erleichterung, als sie bis auf einen Riss in der Jeanshose keine Blessuren feststellte. Auch wenn Frau Ratens ihr das schon am Telefon versichert hatte, war sie jetzt beruhigt, da sie sich selbst davon überzeugen konnte. Ein bisschen wild sah er aus, das Gesicht war vom Weinen fleckig, das Haar verstrubbelt. In seinen Augen jedoch lag ein trotziger Ausdruck, der zeigte, dass er sich ungerecht behandelt fühlte.
Svenja lächelte ihm beruhigend zu und hoffte, dass das ebenso warm wirkte wie einst bei ihrer Mutter und Frau Ratens eben. Kurz strich sie Joris über den Arm, bevor sie sich dem Direktor zuwandte.
»Guten Tag, Herr Knop«, sagte sie förmlich, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Nur, weil der Mann es an jeglichem Respekt missen ließ, musste sie ihm das nicht gleichtun. Für einen Moment aus dem Konzept gebracht, nickte er ihr zu und nahm gleich darauf hinter seinem Schreibtisch Platz.
Weil davor kein weiterer Stuhl stand, blieb Svenja stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war keine Schülerin mehr, die etwas ausgefressen hatte.
Der Direktor maß sie mit einem so vorwurfsvoll mahnenden Blick, dass sie sich sofort schlecht fühlte. »Ich habe dich herbestellt, weil Joris eine Schlägerei angezettelt hat.«
Nun schwieg er. Das hatte er früher schon immer getan. Schweigen war für ihn eine Form der Strafe. Die Wenigsten hielten es aus und knickten irgendwann ein. Auch heute war die Stille noch unangenehm. Aber nun, da sie erwachsen war, schreckte sie sie nicht mehr. Svenja reckte das Kinn und hielt seinem Blick stand.
Röte kroch den Hals des Direktors hinauf und erreichte bereits das Kinn. Als klar war, dass sie nichts sagen würde, sprach er verärgert weiter: »Ein solches Verhalten ist absolut indiskutabel und wird an dieser Schule nicht gebilligt.«
Svenja zwang sich zur Ruhe und nickte langsam. »Auch ich bin nicht dafür, Konflikte mit Fäusten zu lösen. Aber haben Sie sich die Mühe gemacht, in Erfahrung zu bringen, was geschehen ist?« Erneut wandte sie sich zu Joris um.
Ihr kleiner Bruder hatte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst, seine Augen funkelten, während er die Arme vor dem Oberkörper verschränkt hielt. Als Svenja bewusst wurde, wie ähnlich sie sich waren, löste sie die Haltung und ließ die Arme seitlich sinken.
»Darum geht es nicht, Svenja, und das weißt du auch ganz genau.« Der Direktor hatte sich über den Schreibtisch nach vorn gebeugt und sprach nun mit jener leisen Stimme, die sie, wie auch alle anderen, früher gefürchtet hatte. »Wir dulden an dieser Schule keine Schlägereien. Das ist der Anfang allen Übels und wir wissen beide, wie das enden kann, wenn kein Einhalt geboten wird.«
»Was soll das nun heißen?« Svenja gab sich keine Mühe mehr, ihre Empörung zu verbergen.
»Ich habe schon genug Schüler wie ihn gesehen. Mit elf die ersten Prügeleien, mit vierzehn fängt er an zu rauchen, zwei Jahre später Drogen und das war es dann mit der Schule. Wenn er erwachsen ist, steht er ohne Schulabschluss auf der Straße und ist kriminell.«
»Ich muss doch sehr bitten! Interpretieren Sie da nicht ein wenig viel in eine harmlose Rauferei hinein?«
»Harmlos? Basti wurde von seiner Mutter abgeholt. Seine Nase hat geblutet. Ich vermute, dass sie gebrochen ist. Im Moment sind sie beim Arzt, Näheres werde ich später erfahren.«
Nun schluckte Svenja doch. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Basti so schlimm zugerichtet war. Offenbar hatte ihr kleiner Bruder ganze Arbeit geleistet. Wenn Joris etwas anpackte, machte er es richtig, dachte sie mit einem Anflug von Sarkasmus. Darin waren sie sich ähnlich, das lag wohl in der Familie.
»Wie gesagt, wir dulden an dieser Schule keine derartigen Auswüchse. Schon im Interesse der anderen muss ich da Einhalt gebieten.«
Svenja zwang sich, tief durchzuatmen und die saftige Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag, hinunterzuschlucken.
Sicherlich war es nicht richtig, dass Joris diesen Basti verprügelt hatte. Eine faire Chance hatte er von Herrn Knop dennoch nicht erhalten. Noch immer machte der Direktor sich nicht die Mühe, zu hinterfragen, was genau geschehen war.
Überhaupt hätte er ein wenig Milde walten lassen können. Für sie und Joris war die Situation alles andere als leicht. Joris wuchs ohne Eltern auf und von ihr konnte niemand erwarten, dass sie diesen Part, in den sie über Nacht gedrängt worden war, perfekt übernahm.
Svenja schluckte ihre Verbitterung hinunter. Sie musste sachlich bleiben und das trennen, auch wenn es ihr schwerfiel.
»Wir werden zu Hause noch einmal darüber sprechen.« Plötzlich war ihr viel zu warm in dem kleinen, stickigen Büro, das Atmen fiel ihr schwer. »Joris, komm, wir gehen.«
Trotzig erwiderte ihr Bruder ihren Blick. Stumm flehte sie ihn an, jetzt keinen Aufstand zu machen und ihr zu folgen. Eine weitere Konfrontation war nur Wasser auf die Mühlen von Herrn Knops Vorurteilen.
Glücklicherweise erkannte Joris entweder die Not, in der sie steckte, oder er hatte genug davon, auf dem Büßerstuhl vor dem Schreibtisch des Direktors zu sitzen. Zu Svenjas grenzenloser Erleichterung erhob er sich langsam und wandte sich in Richtung der Tür. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn hinauszuschieben, bevor er es sich anders überlegte.
»Nicht so schnell.« Die Stimme des Direktors zerschnitt die Stille.
Svenja schloss für einen Moment die Lider und versuchte, sich zu wappnen. Ruhig erwiderte sie den strengen Blick. »Ist noch etwas?«
Herr Knop war aufgestanden und kam um den Schreibtisch herum. Seine Augen glitzerten auf eine Art, die Svenja einen Schauer über den Rücken jagte.
»Ich bin mir nicht sicher, was Bastis Mutter in diesem Fall unternehmen wird. Möglicherweise leitet sie weitere Schritte ein. In Anbetracht der wiederholten Vorfälle werden wir das von unserer Seite nicht verhindern. Außerdem werden wir im Kollegium über eine vorübergehende Suspendierung sprechen.«
War ihr eben noch warm gewesen, so wurde Svenja schlagartig kalt. Dabei war es nicht der drohende Schulausschluss, der dafür sorgte, dass ihr das Blut nach unten sackte.
»Im Gegenteil«, fuhr Herr Knop unbarmherzig fort. »Sollte das Jugendamt der Überzeugung sein, dass ein Einschreiten sinnvoll ist, teilen wir diese Auffassung.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, gab sie flüsternd zurück.
Stumm starrte er sie an. Herr Knop war einer jener Menschen, die von Anfang an überzeugt gewesen waren, dass Svenja der Aufgabe, ihrem Bruder ein stabiles Heim zu bieten, nicht gewachsen war. Kurz nach dem Unfalltod ihrer Eltern hatte er ihr geraten, Joris in die Obhut des Jugendamts zu übergeben und ihr deutlich gemacht, welch großen Fehler sie seiner Meinung nach beging, als sie das empört zurückgewiesen und das Sorgerecht beantragt hatte.
Nicht nur fand sie, dass es ihre Pflicht war, sich um ihren Bruder zu kümmern, sie war auch der Meinung, dass sie nicht auch noch auseinandergerissen werden durften. Wenn Joris diese letzte Stütze fehlte, wäre er am Tod ihrer Eltern zerbrochen, davon war Svenja fest überzeugt.
Doch es gab einen weiteren Grund, den sie allerdings noch nie jemandem anvertraut hatte. Joris gab auch ihr Halt. Nicht nur er war über Nacht zur Vollwaise geworden, auch Svenja hatte ihre Eltern verloren.
»Ich bin überzeugt davon, dass es so besser ist.«
Svenja ballte die Hände zu Fäusten und setzte zu einer wütenden Erwiderung an, als sich eine Hand um ihre Finger schloss. Es war die Wärme, die sie spürte, die Verbindung des eigenen Blutes, die dafür sorgte, dass sie wieder zur Besinnung kam. Wenn sie jetzt falsch reagierte, konnte das am Ende fatale Folgen haben.
»Ich denke, das werde ich dann selbst klären. Guten Tag.« Auch wenn es sie den letzten Rest an Selbstbeherrschung kostete, kramte sie noch einen Funken Stolz hervor, reckte das Kinn und drehte sich langsam um. Erhobenen Hauptes verließ sie mit Joris an der Hand das Büro, nickte lediglich Frau Ratens zu, die ihr einen mitleidigen Blick schenkte, und warf die Tür hinter sich ins Schloss.
Tränen brannten in ihren Augen, doch sie schluckte sie hinunter. Schweigend verließ sie zusammen mit ihrem Bruder das Schulgelände und ging zum Parkplatz.
***
Svenja brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Sie saß auf dem Fahrersitz und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen. Die Sonne lachte vom Himmel. Eigentlich war es ein perfekter Sommertag. Sie hätte durch die Reihen der Bäume auf der Plantage gehen und nach dem Rechten sehen sollen. Stattdessen fühlte es sich an, als verhöhnte sie dieser Tag.
Joris saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und war merklich in sich zusammengesunken. Von dem Trotz, den er eben bei Direktor Knop noch hatte durchscheinen lassen, oder etwaiger Großspurigkeit war nichts mehr übrig.
Tief atmete Svenja durch. Es hatte keinen Sinn, wenn sie jetzt laut wurde, das wusste sie. Trotzdem hätte sie am liebsten geschrien. Nicht wegen Joris, sondern wegen der Hilflosigkeit, die sich in ihr ausbreitete. Davon durfte sie sich jedoch nichts anmerken lassen. Wenn ihr Bruder spürte, dass etwas im Busch war, reagierte er womöglich über und machte alles nur schlimmer.
Sie hatte ihm nie erzählt, dass das Jugendamt damals die Fühler ausgestreckt hatte. Stets hatte sie Angst gehabt, dass man ihr die Verantwortung für ihren Bruder entziehen könnte. Sie war mit zweiundzwanzig Jahren selbst noch ein halbes Kind gewesen, als ihre Eltern den Autounfall gehabt hatten. Zu einem Teil konnte sie nachvollziehen, dass Herr Knop sie unterstützen wollte. Aber es wäre ihnen beiden keine Hilfe gewesen, wenn man Joris in einer Pflegefamilie untergebracht hätte. Sie und ihr Bruder waren der kleine Rest, der von ihrer Familie übrig geblieben war. Es hätte sie beide seelisch zerrissen, wenn man sie getrennt hätte.
Noch einmal holte sie Luft, dann wandte sie sich um und sah ihren kleinen Bruder an, der mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf neben ihr im Auto kauerte.
»Magst du mir erzählen, was passiert ist?« Svenja versuchte, ihre Worte nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen.
Joris schwieg zunächst, richtete sich aber wieder halb auf. Der Trotz kehrte in seinen Blick zurück, als er sie ansah.
»Basti hat es verdient«, brachte er nach einer gefühlten Ewigkeit hervor, in der es Svenja Überwindung kostete, nicht nachzuhaken oder ihren Bruder mit Vorwürfen zu überschütten.
»Das mag schon sein. Aber musstest du gleich zuschlagen?«
Wut blitzte in seinen Augen auf. »Ja, verdammt nochmal.«
»Joris, bitte.«
»Ach, fluchen darf ich jetzt also auch nicht mehr?«
Svenja hielt seinen zunächst noch aufmüpfigen Blick fest. Es dauerte nicht lange, bis Joris ihrem nicht mehr standhielt und in seinen Schoß sah. Davor hatte sie gemeint, in seinen Augen hinter dem Trotz eine tiefe Traurigkeit zu erkennen.
Sie streckte die Hand aus und legte sie beruhigend auf seine Schulter. »Hey, was ist los?«
Joris’ Schultern begannen unkontrolliert zu zucken, dann tropften plötzlich Tränen auf seinen Handrücken.
Svenja zerriss es das Herz, ihren Bruder so zu sehen. Beruhigend strich sie ihm über den Rücken und zog ihn vorsichtig näher, bis er seinen Kopf schließlich an ihrer Schulter barg und haltlos schluchzte.
Joris’ Reaktion bestätigte ihre Vermutung und insgeheim verfluchte sie Herrn Knop jetzt. Er hätte sich die Mühe machen müssen, zu hinterfragen, was genau vorgefallen war. Natürlich rechtfertigte nichts, dass Joris sich mit Fäusten verteidigt hatte, dennoch hatte auch er ein Recht darauf, seine Geschichte zu erzählen.
Es dauerte erneut eine Weile, bis ihr kleiner Bruder sich so weit beruhigt hatte, dass er wieder sprechen konnte.
»Magst du mir jetzt erzählen, was passiert ist?« Noch immer strich sie über seinen Rücken.
Joris schniefte zunächst, bevor er sich losmachte und sie aus tränennassen Augen ansah. »Er hat gemeine Dinge gesagt. Er behauptet immer fiese Sachen.« Verzweiflung mischte sich in seine Worte.
»Was denn genau?«
Erneut senkte Joris den Blick und schwieg. Als er schließlich doch zu reden begann, sprach er so leise, dass Svenja ihn zunächst kaum verstand.
»Er sagt blöde Sachen über Mama und Papa.«
Svenja spürte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg. In ihrem Magen bildete sich ein Knoten, der mit jeder Sekunde zu wachsen schien. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. »Erzähl es mir bitte.«
»Dass wir keine richtige Familie mehr sind, seit sie tot sind. Und dass aus mir nie etwas Richtiges wird.«
Der Knoten in ihrem Bauch war in Sekundenbruchteilen zu einem Felsbrocken gewachsen und drohte bereits, ihr die Luft zum Atmen abzuschnüren. »Du weißt, dass das völliger Blödsinn ist.« Sie versuchte, ruhig zu klingen, obwohl in ihr der größte Aufruhr herrschte. Am liebsten hätte sie die Eltern von Basti zur Rede gestellt und ihnen auch eins auf die Nase gegeben. Solche Worte hatte sich Basti nicht allein ausgedacht. Er musste nachgeplappert haben, was seine Eltern von sich gaben.
»Er macht das immer. Jeden Tag. Immer sagt er solche Sachen. Und die anderen lachen darüber.«
»Wieso bist du nicht zu einem Lehrer gegangen?«
»Dann behaupten doch alle nur, dass ich eine Petze bin und eine Heulsuse.«
Svenja zerriss es beinahe das Herz. Wie konnten Kinder nur so gemein sein! Nun wurde ihre Wut noch größer. Die auf Herrn Knop und all die anderen Lehrer, die nicht bemerkt hatten, dass Joris drangsaliert wurde. Stattdessen musste sie sich nun mit dem Jugendamt herumschlagen, wenn Bastis Eltern die Schlägerei wirklich zur Anzeige brachten. Für einen winzigen Augenblick hoffte sie, dass Joris Basti wirklich die Nase gebrochen hatte.
Natürlich war auch ihr Bruder kein Kind von Traurigkeit, das war ihr bewusst. Oft schon hatte sie alle Hände voll zu tun gehabt, um Dinge, die er ausgefressen hatte, wieder geradezurücken. Auch hatte sie ihn heute nicht zum ersten Mal bei Herrn Knop abgeholt. Aber in diesem Fall konnte sie nachvollziehen, warum er zugeschlagen hatte. Wenn man täglich mit schmerzhaften Dingen provoziert wurde, war nachvollziehbar, dass einem Kind die Mittel ausgingen.
»Ich verstehe dich«, sagte sie daher, auch wenn das pädagogisch vielleicht nicht wertvoll war. »Ich werde noch einmal mit Herrn Knop sprechen und auch mit Bastis Eltern. So etwas darf er nicht sagen, das müssen sie einsehen.«
»Er wird doch eh nur alles abstreiten.« Niedergeschlagen sah Joris sie an und machte einen so hilflosen Eindruck, dass Svenja ihn erneut an sich zog.
»Ich kümmere mich darum«, versprach sie, obwohl sie im Moment keine Ahnung hatte, wie sie das machen wollte.
Kurz verweilten sie so, dann machte Joris sich los. »Du zerdrückst mich.«
Erschrocken ließ Svenja die Arme sinken. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie fest sie ihn gehalten hatte. Wer brauchte die Umarmung nötiger?
»Entschuldige bitte. Ich werde trotzdem mit ihnen reden.«
»Und was ist, wenn sie wirklich das Jugendamt anrufen?«
Nun fuhr Svenja der Schreck in die Glieder.
»Basti meint, dass sie mich dann ins Heim stecken.«
»So weit wird es nicht kommen.« Svenja biss die Zähne zusammen. Und wenn es das Letzte war, das sie tat. Das würde sie zu verhindern wissen. »Weißt du was? Wir fahren jetzt nach Hause. Den Laden schließen wir heute früher, dafür rufen wir Tante Antje an und fragen sie, ob sie mit uns zum Schwimmen geht.« Svenja wusste, dass sie zuversichtlicher klang, als sie war. In Wahrheit brauchte sie jemanden zum Reden.
»Bekomme ich ein Eis?«
»Darüber reden wir, wenn wir im Schwimmbad sind.«
Joris nickte. Scheinbar erleichtert darüber, dass das unangenehme Gespräch beendet war.
Svenja richtete den Blick nach vorn und ließ den Motor an, der diesmal zwar kurz hustete, dann aber ansprang. Innerlich hatte sie Sorgenfalten auf der Stirn, wenn sie Joris davon auch nichts wissen ließ. Gleichzeitig kämpfte sie noch immer mit ihrer Wut auf Basti, seine Familie und Herrn Knop.
Sie legte den Gang ein und fuhr los.
»Vielleicht noch eine Kleinigkeit fürs nächste Mal.«
Joris wandte den Kopf und sah sie erwartungsvoll an.
»Lass dich bitte einfach nicht mehr erwischen.«
Wenn das Leben alle Pläne über den Haufen wirft ...
Svenja träumt von einer unbeschwerten Zukunft, doch der tragische Autounfall ihrer Eltern stellt alles auf den Kopf. Plötzlich steht nicht nur der marode Obsthof im Alten Land vor dem Aus, sie ist zudem die einzige Bezugsperson für ihren kleinen Bruder Joris, der sie mit seinen Raufbold-Allüren mehr als nur ein paar Nerven kostet.
Svenja bleibt nichts anderes übrig, als die Herausforderung mit unerschütterlichem Mut und einem Haufen wilder Ideen anzunehmen, um den Familienbetrieb zu retten. Doch als der schnöselige Marc Walker vom Jugendamt auf der Bildfläche erscheint, ist das Chaos perfekt.
Für Svenja steht fest, dass sie den Kontrolleur so schnell wie möglich loswerden muss, um sich voll und ganz auf den Hof zu konzentrieren.
Doch je mehr Zeit sie mit Marc verbringt, desto weniger passt er in das Bild des Sozialarbeiters, das sich Svenja anfangs von ihm gemacht hat. Plötzlich entdeckt sie Seiten an ihm, die ihr Herz höher schlagen lassen.
Werden ihre Pläne für den Obsthof und ihr neues Glück am Ende zusammenpassen oder droht alles auseinanderzubrechen?
So erfrischend wie ein Apfel im Spätsommer direkt vom Baum … Ein warmherziger und humorvoller Roman mit Herzklopfengarantie!